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Das Lächeln nach innen

Schriften zu Zeitschriften: Die neuen Ausgaben von „Akzente“ und „text + kritik“ widmen sich der Person und dem Werk W. G. Sebalds, der 2001 bei einem Autounfall ums Leben kam. Die mäandernde Prosa gilt längst nicht mehr als Geheimtipp, und der sardonische Humor steht zur Entdeckung frei

von OLIVER PFOHLMANN

Die Zeit, deren Linearität W. G. Sebald mit seiner eigenwilligen Prosa so nachhaltig in Frage gestellt hat, rast dahin. Anderthalb Jahre liegt der Autounfall schon zurück, der Sebalds Programm der „Entschleunigung“ vor Zeiten beendet hat. Spät erst war der Germanist als Schriftsteller an die Öffentlichkeit getreten, um in nur wenigen Jahren vom Geheimtipp zum international gefeierten Autor zu avancieren. Warum er so lange mit literarischen Publikationen gezögert hat, erklärte er einmal damit, dass seine Frau beim Vorlesen oft eingeschlafen sei.

Jene hochartifizielle Dehnung des Zeitpfeils, die Sebalds schwermütig mäandernde Sätze bei der Lektüre bewirken, sie lässt seine Leser waten wie durch Treibsand. Ein nicht selten vom endgültigen Versinken in Verzweiflung bedrohtes Lesen, gewiss. Und doch zugleich schön und lustvoll. Zumindest für die wachsende Schar der Sebaldianer, die, wie etwa der Amerikaner Andrew Shields, gar von einem „Sebald-Rausch“ sprechen. Dem namenlosen Schwimmer, der sich in „Campo Santo“ immer weiter aufs offene Meer hinaustreiben lassen möchte und nur vom blinden Lebensinstinkt zurückgetrieben wird, scheint es, als „arbeitete ich gegen die Strömung, die mich bisher getragen hatte; nein, ich glaubte vielmehr, es ginge, wenn man das bei einer Wasserfläche so sagen kann, stetig weiter bergauf“.

Stiller und Caulfield

Das Kurzprosastück, das auf zwölf dichten Seiten Sebalds poetologisches Programm in nuce vorführt, ist, neben dem kürzlich bei Hanser erschienenen Band „Unerzählt“ (zusammen mit Jan Peter Tripp), das erste Werk aus dem Nachlass. Mit „Campo Santo“ eröffnet Michael Krüger das Sebald gewidmete erste Akzente-Heft des 50. Jahrgangs. Mehr noch als die würdigenden Essays von Andrea Köhler, Thomas Steinfeld und Susan Sontag und die treffenden Beobachtungen Andrew Shields’ zum Stil Sebalds sind es die persönlichen Erinnerungen Reinbert Tabberts, Uwe Schüttes und Christian Scholz’, die das Heft so interessant machen. Während Tabbert, 1967 Studienkollege Sebalds in Manchester, an einen selbstbewussten und zugleich um seine psychische Gesundheit bangenden, sich mit Stiller und Holden Caulfield identifizierenden jungen Dichter erinnert, soll Sebalds späteres Schreiben, Uwe Schütte zufolge, in hohem Maße der Versuch einer Ersatzbefriedigung gewesen sein, ausgelöst von den zermürbenden Zuständen an der Norwicher Universität, wo Sebald Germanistik lehrte, der „progressiven Bürokratisierung und intellektuellen Degenerierung des britischen Hochschulwesens“ im Zuge der Thatcher-Reformen.

Über das sebaldeske Thema „Photographie und Erinnerung“ reflektiert der Fotograf Christian Scholz in seinem Bericht von einer Begegnung mit dem Autor 1997 in Zürich. Überraschend entspannt, unbeschwert, ja heiter präsentiert sich Sebald auf den dabei entstandenen Aufnahmen: „Das gehört sehr stark zu ihm: lächeln nach innen.“

Überraschend zumindest für die deutsche Kritik. Hat sie doch bislang an Sebald stets das „Saturnische“ gefeiert, wie etwa Sigrid Löffler in ihrem Beitrag für das Sebald gewidmete Heft 158 der Zeitschrift text + kritik. Oder ihm „schwarzen Narzissmus“ und allzu ungebrochene Larmoyanz vorgeworfen. „Kann W. G. Sebald ironisch sein, selbstironisch gar?“ So fragt Thomas Steinfeld irritiert angesichts verdächtiger Passagen in „Austerlitz“, Sebalds letztem Buch, winkt jedoch gleich wieder ab: „Der Scherz war bitterer Ernst gewesen.“ Weniger weihevoll wird Sebald in England gelesen. Der in Birmingham lehrende Germanist Rüdiger Görner schreibt über den von den britischen Kollegen geschätzten „sardonic humor“ Sebalds. Und er erklärt die erstaunlich intensive Aufnahme von Sebalds Prosa damit, dass die englischen Leser von der Ironie dieses Autors entzückt seien: Britische Leser sehen in ihm den „seltenen Fall eines deutschen Schriftstellers, der über eine ironische Melancholie verfüge, auf die eigentlich englische Exzentriker ein Monopol hätten“.

Womit alles beginnt

Nur eine Nebenwirkung der Übersetzung? Dass die Angelsachsen, anders als deutsche Leser, auch die ironischen, womöglich gar komischen Seiten an Sebald genießen können, könnte auch an einem unbeschwerteren Verhältnis zur eigenen Vergangenheit liegen. Ein Aspekt, der gerade von der von Jörg Friedrichs umstrittener Studie „Der Brand“ ausgelösten Diskussion um den alliierten Bombenkrieg berührt wird. Einen Vergleich von Friedrichs Darstellung mit der Sebalds in Luftkrieg und Literatur sucht man jedoch in beiden Literaturzeitschriften vergebens. Eher brav resümiert dagegen Christian Schulte für text + kritik Sebalds Thesen zu den Verdrängungen in der deutschen Nachkriegsliteratur und den aus ihr abzuleitenden ästhetisch- ethischen Konsequenzen.

Ansonsten dominieren den wie immer von Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen Band kluge Beiträge, die nach Sebalds Schreibweise, dem Verhältnis von Dokumentation und Fiktion sowie nach der Funktion der Abbildungen und Fotos in seinen Werken fragen. Roland Barthes’ Unterscheidung von dokumentierendem „Studium“ und schockartigem „Punctum“ sowie Robert Musils Ideal einer „fantastischen Genauigkeit“ liefern wertvolle Anknüpfungspunkte für die Suche nach jenen seltsamen Koinzidenzen, von denen Sebalds Werke berichten.

Auf eine macht Andrea Köhler im Akzente-Heft aufmerksam: Die erste Begegnung mit dem Tod hatte Sebald als Fünfjähriger beim Blättern in einem Fotoalbum; eine Aufnahme zeigte einen toten Soldaten, der 1933 bei einem Autounfall umgekommen war. „Es war dieser Augenblick, bemerkt Sebald in einer für ihn typischen Inversion von Anfang und Ende, als ihn die Ahnung durchzuckte, ‚dass es dies war, womit alles begann‘.“

„W. G. Sebald zum Gedächtnis“. Akzente. Zeitschrift für Literatur. Heft 1. München, Hanser 2003. 98 S. 7,30 €Ľ„W. G. Sebald“. text + kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 158. 119 S. 14 €.

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